Eine junge Frau sitzt auf grünem Rasen. Auf ihren verschränkten Beinen hat sie ein offenes Buch und ein Notizheft abgelegt. In das Buch schreibt sie mit einem Kugelschreiber. Die Frau hat braune Haare und trägt ein sommerliches Shirt sowie eine kurze Hose. Wir sehen ihr schräg über die Schulter.

Ein Tropfen vom Glück von Antoine Laurain

Der französische Schriftsteller und Antiquitätenhändler Antoine Laurain sagte bei einer Lesung im Literaturhaus Schleswig-Holstein im Sommer 2018, das Wichtigste an einer guten Geschichte sei ihr Anfang. Das, was dazwischen und am Ende geschehe, passiere oft einfach, doch ein großer Geschichtenerzähler vermag nur dann ein gutes Werk zu schreiben, wenn er seinen Leser*innen die kunstvoll gestaltete Tür zu einer Welt aufhält, die sie ohne ihn nie betreten würden.

Diese Aussage verwundert in Anbetracht der Tatsache, dass Laurain als Händler antiker Erbstücke, in Vergessenheit geratener Kostbarkeiten und historischer Kleinnote doch am Ende einer Geschichte steht: Was für eine Geschichte man der nächste Gegenstand haben, der ihm in die Hände fällt? Auch Antiquitäten sind Türen zu neuen Welten und versinnbildlichen in sich einen ganz eigenen Anfang, der nur darauf wartet, erzählt zu werden.

Und wie so viele gute Geschichten beginnt auch diese aus der Feder von Frankreichs gefeiertem Bestsellerautor mit einer Flasche Rotwein, Jahrgang 1954.

Zurück in die Vergangenheit

Da ist der alteingesessene, notorische und liebenswürdige Pariser Hubert, der als Vorsteher einer Hausgemeinschaft in Montmartre den Familienbesitz hegt und pflegt; und nebenbei den alten Damen gleicht, die ihre Nachbarn gerne stundenlang aus dem Fenster beobachten und Missfallen von sich geben. Zu ihm gesellen sich Julien, um die 20, Cocktailmixer in Harry’s Bar und gerade in seine Wohnung in Hubert’s Haus gezogen, sowie die schöne Gothic-Anhängerin Magalie, die von allen nur Abby genannt wird. Eine Hommage an die Figur der Abby aus Navy CIS, die Restauratorin Magalie nur bedingt zu gefallen scheint. Der vierte im Bunde ist Amerikaner Bob Brown, Mitglied einer friedlichen Motorradgang und bestückt mit einem so dickem Bizeps, dass er sogar Eisenstangen verbiegen kann. Um letzten Wunsch seiner todkranken Frau Goldie zu verwirklichen, ist er ohne sie nach Paris in eine airbnb-Wohnung in Hubert’s Hausgemeinschaft gereist.

Als Hubert nach einer köstlich-komischen Hausbewohnerversammlung zwei Einbrecher in seinem Keller überrascht und ihm seine drei neuen Freunde zu Hilfe eilen, muss auf den Schreck erstmal ein Wein getrunken werden. Noch dazu ein besonders ominöser, denn die Flasche aus dem Jahr 1954 steht unter dem Stern von UFO-Sichtungen über französischen Weinbergen. Der edle Tropfen hat es in sich: Die vier finden sich am nächsten Morgen wieder im Paris der 1950er. Oldtimer, Metzger in den Pariser Halles, die Mona Lisa ohne Selfie-Sticks, Cocktails mit Audrey Hepburn, Essen mit Piaf und Gabin, irgendwie laufen sie auch Dalí, Truffaut und Chabrol über den Weg — das sind Menschen, Musik, Wein, Liebe und Paris. Der Zeitsprung wird für Hubert, Julien, Abby und Bob zu einer magischen Reise, an deren nichts mehr ist, wie es vorher war.

Irgendwas mit UFOs

Irgendwas mit einem UFO, irgendwas mit Science-Fiction, irgendwas mit Quantenphysik — ganz egal, ob man genau versteht, was Laurain da schreibt. Wer nicht zu viel nachdenkt und einfach das Lesen genießt, kann sich dem Zauber der nostalgisch-kitschigen Geschichte nicht entziehen. Die Geschichte funktioniert, wie schon Woody Allen’s Midnight in Paris funktioniert hat. Weil es um märchenhafte Begegnungen geht, um die Erinnerung an eine außergewöhnliche Zeit, in der vieles vielleicht nicht besser, aber umso schöner war. Laurain schafft es wieder auf wenigen Seiten, seine Leser*innen zu fesseln, in sein Paris zu entführen und federleicht Geschichten zu sammeln, die für kurzweilige Unterhaltung mit sehr viel Witz auf bestem Niveau sorgen. Ja, das Ganze ist unwahrscheinlich; ja, sicher fehlt es an manchen Stellen an Tiefgang; ja, auch der Prolog und die unglückliche Übersetzung von Bob’s gebrochenem Englisch aus dem Französischen passen nicht wirklich zur Geschichte.

Trotzdem ist das Lesen ein Genuss. Santé!

Fazit: 1 von 5 Sternen 2 von 5 Sternen 3 von 5 Sternen 4 von 5 Sternen 1

Und wenn man sich als Leser*in vielleicht den großen Knall erhofft hat, tun es am Ende doch die kleinen Momente. Kleine Wunder, die zu einem guten Rotwein Jahrgang 1954 gehören.