Eine junge Frau sitzt auf grünem Rasen. Auf ihren verschränkten Beinen hat sie ein offenes Buch und ein Notizheft abgelegt. In das Buch schreibt sie mit einem Kugelschreiber. Die Frau hat braune Haare und trägt ein sommerliches Shirt sowie eine kurze Hose. Wir sehen ihr schräg über die Schulter.

Gezeitenwechsel von Sarah Moss

Das Leben verläuft in angenehmen Bahnen, ist vielleicht etwas eintönig — und dann kommt dieser Moment, der die Banalität auseinander reißt. Wenn die Ungewissheit übergreift, weiterleben zu müssen, ohne Erklärungen zu bekommen. Wenn im Schoße der Familie, dem Sinnbild für Schutz und Antworten, genau dies nicht mehr zu finden ist.

Sensibel und gleichzeitig schonungslos öffnet Sarah Moss ein Fenster ins Innenleben einer normalen Familie, deren Zusammenhalt auf die Probe gestellt wird.

Spätestens mit ihrem nunmehr vierten in Deutschland erschienen Roman wird Sarah Moss kein Geheimtipp mehr bleiben. Abseits ihrer sonst stark feministisch eingefärbten Werke, oft vor historischem Hintergrund, gewinnt Moss mit Gezeitenwechsel hochaktuellen Boden:

Elternschaft, Leben, Angst, Tod, Liebe, Gesellschaftsmüdigkeit, und das alles mit der Stimme eines männlichen Protagonisten, auf den die Blaupause der „Rolle der Frau im 21. Jahrhundert“ geschickt übertragen wird.

„Es ist etwas passiert“

Adam Goldschmidt, um die 40, Akademiker der englischen Arts and Crafts Bewegung, Gelegenheitsdozent, Familienvater, Hausmann: Für seine Töchter Miriam (15) und Rose (8) ist Adam all das, was ihre Mutter Emma (dauergestresste Ärztin) nicht sein kann. Seine Tage sind gefüllt mit Wäschewaschen, gesundem und biologisch wertvollem Kochen, Kuchenbacken für den Schulbasar, Begleitung zu Kindergeburtstagspartys, Putzen, Betten wechseln, Hausaufgabenüber-wachung. Ihm bleibt wenig Zeit für seine wissenschaftliche Arbeit über die Kathedrale von Coventry. Selten ärgert Adam sich laut über seine eintönigen Tage oder die geringe Anerkennung, die er von Frau und Töchtern erhält. Nur innerlich buhlt er um die Gunst seiner Kinder, wünscht sich Liebe und Aufmerksamkeit seiner Frau, stellt Gedanken zur Gleichberechtigung innerhalb ihrer Partnerschaft an — willkommen in der einer normalen englischen Familie, in der der klassische Geschlechterwechsel in der modernen Zeit nicht mehr in Frage gestellt wird.

Es kommt der Tag, an dem etwas passiert: Tochter Miriam hört auf zu atmen.

Sie erleidet auf dem Pausenhof einen Herz- und Atemstillstand. Einfach so. Reanimiert wird sie ins Krankenhaus gebracht. Dann endlich eine Diagnose: „Idiopathische, vielleicht belastungsinduzierte Anaphylaxie“, eine allergische Reaktion des Immunsystems. Vielleicht.

Denn eine Ursache können die Ärzte nicht ermitteln. Während Miriam mit dem Vorfall in ihrer flapsig-pubertären und aufsässigen Art umgeht, wird Adam beherrscht von der Sorge um sein Kind.

Warum ausgerechnet meine Familie? Warum meine Tochter? Ist es genetisch bedingt? Wie können wir weitermachen?

Stoff für seine obsessiv-ängstlichen Gedankenschleifen liefern der nie geklärte Tod seiner eigenen Mutter, die beim Schwimmen ertrank, und die plötzliche Atemnot von Rose bei einem Geburtstag im Schwimmband.

Von seiner überarbeiteten Frau alleingelassen, kann Adam Miriam nicht mehr aus den Augen, geschweige denn aus dem Haus lassen; nachts findet er sich an ihrem Bett wieder, um ihren Atem zu hören. EpiPen, Inhalator, Notfallarmaband werden zu dauerhaften Begleitern.

Wie kann eine Familie zur Normalität zurückkehren, wenn die Urangst, das eigene Kind zu überleben, von nun an alles bestimmt?

Was wäre wenn

Moss bewegt sich in ihrem Roman zwischen zwei Welten: Davor und danach. Das dauerhafte Was wäre wenn schwebt über den Familienmitgliedern wie ein Damoklesschwert, betont Sterblichkeit, Elternliebe, Obsession und Familien-dynamik. In sehr klaren, doch niemals abgestumpften Bildern macht Moss Leid und Hilflosigkeit greifbar. Der innere Monolog Adams’, der meist nicht mit seinen tatsächlichen Worten und Taten übereinstimmt, hält überzeugend fest, dass Adam Rollen spielt: Der Familienmensch, der Vater, der gescheiterte Akademiker. Eine starke Charakterzeichnung, in deren Vergleich Emma, Miriam und Rose leicht verblassen.

Nicht immer überzeugend in die Handlung eingebunden, sind Adam’s Studien zur Kathedrale von Coventry, die 1940 während des deutschen Blitz zerbombt und 1962 zur Bewahrung der Geschichte von Basil Spence neu errichtet wurde. Moss versucht sich hier an einer zwar ansprechenden Metapher, in der die zerstörte und erneuerte Kathedrale zum Wiederaufbau der Familie Goldschmidt wird, schafft damit jedoch Distanz zur starken Stimme ihres Protagonisten. Auch Adams Vater Eli, dessen Erlebnisse als junger Mann im Amerika der Hippies, freien Liebe und freien Gedanken, übernimmt eine Rolle in dieser Geschichte — bleibt aber eben nur das: ein netter Geschichtenerzähler.

Ob Moss mit dem Rollentausch von Hausfrau und Karrieremann über ihr Ziel hinausschießt, bleibt ebenfalls zu hinterfragen (denn wird von einer zu Hause bleibenden Mutter nicht genau das erwartet, was Adam leistet?).

Fazit: 1 von 5 Sternen 2 von 5 Sternen 3 von 5 Sternen 4 von 5 Sternen 1

Trotz kleiner Schönheitsfehler überzeugt Gezeitenwechsel durch seine Klarheit: Auch die eignen Kinder werden sterben. Und eben diese Klarheit wird zur zerreißenden Belastungsprobe.