Rechts im Bild befindet sich ein junger Mann mit grauem T-Shirt, der eine Kamera um die Schulter trägt. Er hat ein Mikrofon in der Hand und hält es einer jungen Frau mit langen braunen Haaren hin, die ein schwarzes Top trägt. Es handelt sich um eine Interview-Situation. Im Hintergrund befinden sich Bäume und dahinter Gebäudefassaden. Die Personen sitzen auf einer Treppenstufe aus Stein.

Man muss zerstören, um Neues zu beginnen - ein Gespräch mit Künstler Tommi Ritter

Als ich ihn auf seinem Resthof in Südniedersachsen besuche, ist Tommi Ritter gerade dabei, ein Beet umzupflügen. „Das war mal ein Hühnerstall“, verrät er. Der Künstler lebt mit seiner Frau und zwei syrischen Jugendlichen inmitten einer großen Wohngemeinschaft, die sich im Gebäudekomplex des alten Bauernhofes heimisch fühlt. Seit er 18 Jahre alt ist, lebt Ritter in WGs und so habe er es sich auch zu jeder Zeit gewünscht, sagt er.

Wir spazieren durch den Garten. Wildgewachsene Obstbäume, von Gras und Sträuchern überwucherte Beete und hohes, dichtes Gras – ein lebendiges Stück Erde, auf dem ein Töpferofen neben Schaukeln und dem Sommeratelier des Künstlers ein Zuhause findet. Während er mir den großen Garten zeigt, verfällt Tommi Ritter immer wieder in einen Plausch über den Hühnerstall – seiner Meinung nach ein gescheitertes Experiment. Im Laufe unseres Gesprächs erkenne ich allerdings recht schnell: zahlreiche Projekte sind Tommi Ritter gelungen.

Tommi Ritter, lächelnd im Profil zu sehen
Tommi Ritter inmitten seiner grünen Oase. © 2018 Carina Fricke

Mit anderen gemeinsam, für andere arbeiten – das zeichnet das Leben des Künstlers aus. Mit 18 Jahren begann er, in einem Jugendzentrum zu arbeiten, studierte dann aber zunächst Lehramt. „Das hatte damit zu tun, dass ich nicht so richtig wusste, was ich werden wollte und auch nicht so ganz sicher war, ob das mit der Kunst was ist“, begründet er seine Entscheidung. Während des Studiums nahm er einen Job auf Honorarbasis beim Caritas Verband Hannover an, wo er verschiedene Modelle zur Integration von Gastarbeiterkindern mitgestaltete. Mit anderen Caritaskollegen folgte eine Hausbesetzung in Hannover Linden-Süd. Das Türenaufbrechen hatte sich gelohnt: In dem Gebäude entstand bald ein Kinderzentrum, das in Linden-Süd, einem multikulturellem, eher ärmlichen Viertel, besonders gut angenommen wurde. Ritters Tatendrang beeindruckte den katholischen Wohlfahrtsverband und verschaffte ihm eine hauptberufliche Anstellung als Sozialpädagoge. An diese Arbeit erinnert sich Tommi Ritter heute gerne. Zu sehen, dass er etwas bewegt habe - daraus könne er Kraft schöpfen, sagt er. „Das hat mir und meiner Arbeit Bestätigung gegeben.“ Aus Pflichtgefühl legte er das zweite Staatsexamen als Lehrer ab und arbeitete einige Zeit mit „Schulversagern" , die er auf dem Weg zum Hauptschulabschluss begleitete.

Nach seiner „politischen Phase“, wie Ritter selbst von der Zeit beim Caritas Verband spricht, begann er etwas Neues: das Studium der freien Kunst an der FH Hannover. „Da war ich nur bei mir und meinem Fortkommen, das war ganz anders“, erinnert er sich. Beim Kunststudium lernte er seine Frau Susann Karsthof kennen. Die beiden haben drei erwachsene Kinder, die heute in verschiedenen Winkeln der Welt zuhause sind. Seine Familie war für Tommi Ritter und seine Arbeit immer der entscheidende Antrieb. Er musste Bilder verkaufen, um seine Familie zu ernähren. Deswegen habe er nie viel gejammert und habe die Verpflichtungen, die eine eigene Familie mit sich bringe, als Motivation verstanden, um an seiner Kunst zu arbeiten und „sie an die Leute zu bringen“. So fand er früh zahlreiche Galerien, die seine Bilder verkauften.

Heute erarbeitet er sich das gesellschaftliche Engagement wieder zurück. Kunst und Gemeinnützigkeit seien nun ausgeglichen. Er gibt auch zu, in den letzten drei, vier Jahren nicht mehr so viel Freude an der Kunst finden zu können. Das Bauen, Räume der Begegnung zu schaffen, erfülle ihn derzeit mehr. Eins seiner Langzeitprojekte ist das Kesselhaus Lauenau, eine kulturelle Einrichtung mit industriellem, aber gemütlichem Flair voller alter, bequemer Sofas, in dem Konzerte stattfinden und die eine Flucht aus dem Alltag bietet. „Die Konzerte bringen keinen Profit, ich mach das einfach so“, sagt er.

Doch die Zukunft seines Kesselhauses macht Tommi Ritter Sorgen. Er möchte es später nicht an jemanden verkaufen, der dort große Wohnlofts ausbaut, die sich „dann nur Leute mit viel Geld leisten können“. Viel lieber möchte er großen Familien mit vielen Kindern bezahlbaren Wohnraum bieten. Gerade baut er ein Miethaus aus, in dem einmal viele Menschen zusammenleben und sich gut verstehen sollen. So wie in seiner ganz eigenen, großen Wohngemeinschaft. Trotzdem gäbe es Leute, die ihm vorwerfen, immerzu eigenmächtige Entscheidungen zu treffen. „Aber, wenn ich das nicht getan hätte, dann wäre vieles nicht entstanden“, betont der Künstler. Und zu einem Seniorendasein fühle er sich auch noch nicht in der Lage: Rumsitzen und sich auf die Rente freuen? Das sei nichts für ihn! Neue Projekte, Visionen, Möglichkeiten - die treiben ihn an.

Als Deutschland 2015 Zufluchtsort für viele Flüchtlinge wurde, wollten Tommi und seine Frau auch etwas tun: Menschen helfen. Ein Motiv, das sich durch das Leben des Künstlers zieht. Seit zweieinhalb Jahren sind sie jetzt die Pflegeeltern von Ali und Jaffa, zwei afghanischen Jugendlichen, die aus dem Iran nach Deutschland kamen. Jetzt ist Ali das erste Mal zum Geburtstag eines deutschen Fußballkollegen eingeladen worden. Das freut Tommi Ritter ganz besonders, denn die Integration dauere, sagt er. Aber Ali und Jaffa haben gute Voraussetzungen: Beide sind im Sportverein aktiv, besuchen die naheliegende Gesamtschule und sprechen sehr viel Deutsch in ihrer Freizeit. Final, so sagt Ritter, könne man die Integration erst dann beurteilen, wenn sie es bis zum Schulabschluss und in eine Lehrstelle geschafft haben. Der Künstler freut sich, die Jugendlichen auf ihrem Weg dahin zu begleiten.

Tommi Ritter hat ständig Ideen für neue Projekte. Den Bau des Hühnerstalls begann er vor zweieinhalb Jahren mit Ali und Jaffa. „Ich fand es toll, ein gemeinsames Projekt zu haben.“ Er habe aber schnell gemerkt, dass er mit dem Hühnerstall nichts anfangen konnte und riss ihn wieder ab. Aber manchmal müsse man Abschied nehmen, damit Neues entstehen könne, sagt er. „Das ist, was das Leben ausmacht: Mutig zu sein. Zu verwerfen und zu zerstören, um etwas Neues zu beginnen.“ In der Kunst, wie auch im Leben.