In der rechten Bildhälfte steht ein roter Bus aus dem Nahverkehr. Links steht sich eine junge Fraz mit langen braunen Haaren und sommerlicher Kleidung. Sie schaut durch den Sucher einer Kamera, die auf einem Stativ steht und zum Bus zeigt.

Der Mann im Spiegel

“HOOOI!”

Die ausgelassene, verzerrte Stimme meines großen Bruders Max schallt durch meine Kopfhörer direkt in mein Ohr. Seit er vor sieben Jahren nach Leipzig gezogen ist, finden beinahe alle unsere Konversationen via Internettelefonie statt. Diese Art der Begrüßung hat Tradition, sie ist fröhlich und ein wenig albern, so wie er, unter Freunden und Familie. Wenn er laut lachend durch die Küche unserer Mutter springt und ein schelmisches Grinsen von einem Ohr zum anderen aufsetzt, glaubt man kaum, welche mentalen Kapazitäten hinter den grün-braunen Augen stecken. Normalerweise sprechen wir nicht viel über tiefschürfende Themen, wir zocken zusammen. Er redet nicht gern über sich. Über manche Dinge sogar mit niemandem?

„Klar, bei ganz vielen Dingen sogar“, erwidert er unbekümmert.

„Wieso nicht?“, frage ich.

„Manchmal denke ich, da kann mir eh keiner helfen. Oder ich will kein falsches Bild von mir vermitteln. Jedenfalls liegt es nicht daran, dass ich Angst vor dem Ans-Licht-Kommen meines wahren Ichs hätte.“ Er lacht.

Worüber er allerdings gern spricht, das ist Sport.

Im Internet findet man ihn als Personal Trainer und Geschäftsführer der Athlagon GmbH, der Mutter der Fitnessanalyse-App Athlagon, die er 2017 gegründet hat. Erster Eindruck: Ein Macher, ein Geschäftsmann. Daneben ein Foto von ihm, mit einem Blick in die Kamera, dem man ansieht, dass der Abgebildete jetzt lieber woanders wäre. In Schweden vielleicht, in einer Hütte ohne richtige Toilette, ohne Internetzugang, aber einem großen See mit vielen Fischen zum Rausangeln davor und einem Boot darauf. Wahrscheinlich säße er sogar lieber an seinem Computer in seinem Heimbüro, um weiter an seiner inzwischen auch international verfügbaren App zu arbeiten. Das bedeutet: Sportvideos planen, drehen, schneiden, alle Texte übersetzen (lassen), in stetem Kontakt mit dem Programmierer diverse Funktionen optimieren, Feedback bearbeiten und umsetzen.

Seine Pflichten nimmt der 27-Jährige ernst, so unliebsam sie auch sein mögen: „Was muss, das muss“, ist er überzeugt. Seine Disziplin ist ihm auch körperlich anzusehen: Täglich Kraftsport, manchmal sogar zweimal pro Tag, formen ihn zu einem breitschultrigen, fitten Mann.

Dabei steht ihm kein sportliches Ziel per se vor Augen, kein Marathon, kein Mr. Olympia-Titel und erst recht „kein fescher Summer-Body“, betont er. Wozu also? „Für die Leistungssteigerung“, meint er. Es sei das Gefühl, immer besser zu werden, noch eins drauf zu setzen, zu wissen, was dem Körper möglich ist, das ihn so einnehme. Und sich so für jede Lebenssituation vorbereitet zu fühlen, trete sie ein oder nicht.

Das macht Athlagon für ihn auch so wichtig, es scheint seine Kampfansage gegen die Schönheitsindustrie und voranschreitende Eitelkeit und Oberflächlichkeit in der Sportbranche zu sein.

Ein Geschwisterpaar von hinten in schwarz-weiß legt die Arme umeinander und schaut über das Wasser

Eine Firma war nicht immer sein berufliches Ziel. Nach dem Abitur 2010, einer Zeit, in der man nach der Schule noch eine Zeit bei der Bundeswehr abzuleiten hatte, verweigert er seine Wehrpflicht und nimmt stattdessen eine Zivildienststelle beim Deutschen Roten Kreuz an. Seine Erfahrungen legen den Grundstein für das Interesse an einem Medizinstudium. Sein mäßiger Notenschnitt verwehrt ihm jedoch einen Platz an einer Universität. „Das ist eine der Sachen, die ich bereue: Diese Arroganz in der Schulzeit, nicht richtig Gas gegeben zu haben. Das war maßgeblich dafür, dass ich nicht Medizin studieren konnte. Das wäre ein toller Weg gewesen“, erzählt er mit Wehmut in der Stimme. „Naja, so ist es eine Möglichkeit für Athlagon geworden. Aber vor zwei Jahren habe ich noch richtig daran gekaut.“ Das Interesse an der Medizin bleibt bis heute.

Nicht, um den Menschen zu helfen, sagt er, nicht, um zu heilen, sondern um zu forschen, zu managen, zu optimieren.

„Optimieren“ – eines der Worte, das er häufig verwendet, wenn er spricht.

Max denkt gerne groß: Eine seiner guten Eigenschaften ist seine Begeisterungsfähigkeit. Er nennt es Fokussierung, ich denke, manchmal kann man es Exorbitanz nennen.

Ein Beispiel: Wir tauschen gerne Musiktipps untereinander aus, sprechen über Filme oder Videos, die viral gehen. Wenn er von einem neuen Künstler (sein aktueller Liebling ist Pollock) erzählt, ist das kein toller Maler, nein: Es ist der beste, talentierteste, den er je gesehen hat. Ein Lied gefällt ihm nicht nur, es ist „so geil, sowas hab ich noch nie gehört“ – das Gleiche natürlich auch andersherum, was beim Gegenüber nicht immer gut ankommt.

In einer unbekannten Runde versucht er seine Meinungen nur zurückhaltend zu äußern, wenn die Diskussion aber hitzig wird, kann er es auch werden. Oder er schaltet einen Gang zurück, spricht weniger, hört zu und denkt sich seinen Teil, um einen unbeteiligten Gesichtsausdruck bemüht, nur seine Augen verraten, wie genervt er wirklich ist. Sein Anstand und die Unliebsamkeit eines unnötigen Streits halten ihn davon ab, offener zu reagieren.

Neben den Superlativen beweist er, wie aus dem Nichts, ein sehr feines Gespür für die Befindlichkeiten und Motive seiner Mitmenschen. Eine harmlose SMS von unserer Mutter über dies und das im Gruppenchat: Schon hat er die halbe Gefühlslage in unserem Heimathaus beim raffinierten Zwischen-den-Zeilen-Lesen analysiert. Das Problem dabei ist manchmal, dass man sich durchschaut fühlt, auch wenn man sich für noch so komplex hält. Und dass er sich manchmal schlecht vorstellen kann, dass auch ihm unbekannte Motive hinter den Handlungen und Stimmungen seiner Mitmenschen stehen könnten. Schwierig, wenn man mit einem Produkt so viele unterschiedliche Menschen erreichen möchte.

Empathie entstehe aus Selbstreflektion, sagt er, der wichtigsten Tugend. „Das Hauptproblem der Gesellschaft ist, dass die Leute nicht neben sich stehen können“, erklärt Max seinen Gedankengang. „Das ist das Problem von Rassismus, von Homophobie, die Leute sind zu egozentrisch. Sie verstehen nicht, dass andere Leute exakt so denken, wie man selbst und jeder die Welt aus seinen eigenen Augen betrachtet. Sie wissen es vielleicht im Kopf, sie wiederholen es und sagen es auch von sich aus, aber es wirklich im Innersten begriffen, das haben die Wenigsten“, ist er sich sicher und spricht weiter:

„Manchmal macht man es ja auch selbst nicht, wenn Emotionen hochkochen, dann wird die Rationalität ausgeschaltet, dann will man das Gefühl genießen, den Zorn, die Unzufriedenheit – das ist schon klar. Aber man sollte die Leute und sich selbst immer wieder dazu anhalten.“

Jeder Mensch ist widersprüchlich, das schließt auch meinen Bruder nicht aus. „Ich habe eine extrem starke materialistische Tendenz – ich bin interessiert an Geld und Gütern, aber ich weiß in jeder ruhigen Minute, dass mich das eigentlich unglücklich macht und es das Cleverste wäre, eigentlich diesen Hippieweg zu gehen. Nicht mit Dreadlocks und dem veganen Kürbispüree im Bambus-Fahrradkorb, sondern die Nummer mit einem Bauernhof in Uganda, wirklich nur für mich sein, frei von politischem Einfluss und Fremdbestimmung. Das wäre der glücklichste Weg für mich.“

Ich habe noch eine letzte Frage an ihn:„Bauchgefühl oder langdurchdacht?“

Er entscheidet sich für das Bauchgefühl. Dafür sind die meisten seiner Entscheidungen zu gut durchdacht, denke ich. Macht nichts, ich mag ihn. Bis morgen? „Jo, bis morgen! TSCHAAAUU!“