Der Unternehmer, der in Indien Fahrräder verkaufte und auf die Suche ging

Ein Schüler, der mit vier Freunden nach Ägypten trampt. Der mit dem Motorroller von Hamburg bis nach Marokko fährt. Ein Umzugshelfer im indischen Ashram. Ein Taxifahrer in der Hamburger Innenstadt, der bei einem Freund auf der Couch lebt. Ein angehender Architekturstudent, der als Quereinsteiger in die IT wechselt. Ein Barkeeper im Berliner Nachtleben, ein Stromtechniker, der in Amsterdam die Elektroarbeiten für den Bau eines Hotels leitet. Ein Hamburger Kellner, der in einer ehemaligen Schokoladenfabrik wohnt. Ein Türsteher im Amsterdamer Rotlichtviertel, der in einem umgebauten Gefängnis zu Hause ist. Ein indischer Fahrradhändler, der in einer Bambushütte sitzt und lächelt. Ein Firmengründer, der aufs Land gezogen ist und Hunde liebt.

Was haben all diese Menschen miteinander gemein? Nun – sie sind ein und dieselbe Person.

Jan Siebert[1] lebt in einem kleinen Badeort an der Ostseeküste in Schleswig-Holstein. Entspannt in seinem hell eingerichteten Wohnzimmer sitzend, die Collie-Hündin Leena zu seinen Füßen, würde niemand auf die Idee kommen, dass Jan wohl mehr Leben gelebt hat, als eine Katze es jemals könnte.
Hätte ich ihn vor rund 35 Jahren getroffen, hätte ich ihn in der roten Tracht der Kommunen und mit langen Haaren wahrscheinlich kaum wiedererkannt. Von dem Abenteurer, der in Indien das Meditieren lernte und dann mit nichts als einer Werkzeugtasche umherzog, ist heute zumindest äußerlich nichts mehr übriggeblieben. Heute strahlt er eine innerliche Ruhe aus, sitzt mir entspannt zurückgelehnt gegenüber und hat mit seinem hellblauen Hemd, den kurzen, mittlerweile ergrauten Haaren und der schwarzen Brille rein gar nichts Halsbrecherisches an sich.

Doch wie wird aus einem Hamburger Abiturienten ein Schüler des indischen Ashrams und dann aus einem Kommunenmitglied ein selbstständiger Unternehmer, der jeden Tag ein Hemd anzieht und am Schreibtisch arbeitet? Auf diese Frage zuckt Jan nur die Schultern, lächelt und antwortet: „Das hat sich so ergeben.“ Zunächst einmal handelte es sich um einen schon in jungen Jahren abenteuerlustigen und unkonventionell denkenden Abiturienten, der Unternehmungen, wie eine Motorrollertour nach Marokko und eine Fahrt per Anhalter nach Ägypten, als Urlaub bezeichnete – Ideen, bei denen andere Leute nur die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätten. Auch er selber schüttelt bei dem Gedanken den Kopf: „Heutzutage stellen sich mir die Nackenhaare auf, wenn ich daran denke, was ich alles gemacht habe. Aber damals war es irgendwie auch eine Art Sport, mit wenig Geld weit zu kommen.“

Eines Tages kamen Briefe von einer Freundin aus einem fernen Land, Briefe, die so jenseits von allem Bekannten und Vertrauten waren und Jan derartig faszinierten, dass er sich sofort hingezogen fühlte zu diesem fremden Land am anderen Ende der Welt – Indien. Die tief verwurzelte Abenteuerlust gepaart mit der Sehnsucht nach etwas Größerem, und nun die Faszination für dieses exotische Leben, das er bisher nur Schwarz auf Weiß kennengelernt hatte, veranlassten ihn schließlich dazu, seine Sachen zu packen und selbst nach Indien zu reisen. Er hätte irgendwie schon immer gewusst, dass der klassische Lebensweg Schule-Studium-Arbeit-Ehe-Familie nicht sein Weg sein würde. Dass er etwas anderes brauchen würde, um glücklich zu sein. Dieses Andere fand er im indischen Ashram, wo er sich vertrauter und freier fühlte, als er es in seiner Heimat in Hamburg jemals getan hatte. „Im Ashram kamen aus aller Welt Menschen zusammen, die, wie ich, etwas gesucht haben – die einen Abenteuer, die anderen was Spirituelles. Mich hat damals dieses völlig andere Leben fasziniert.“ Das Zusammenleben im Ashram hatte seine eigene Ordnung, seine eigenen Regeln und Freiheiten – Freiheiten, die es vor allem in der deutschen Gesellschaft zu jener Zeit nicht gab.

Im Jahre 1979 war aus dem abenteuerlustigen Abiturienten ein indischer Fahrradhändler geworden, der in seiner Bambushütte wohnte, im Ashram Meditationsunterricht nahm und glücklich war. Mittlerweile war ein ganzes Jahr vergangen, seit er in diesem damals für ihn so fremden und doch so faszinierenden Land angekommen war. Er lebte von dem Geld der Touristen, die bei ihm Fahrräder für ihre Touren kauften, und ließ sich vom Fluss des Lebens treiben. Er hatte schon lange nicht mehr genügend Geld für einen Rückflug nach Deutschland, doch das spielte keine Rolle. Er lebte im Hier und Jetzt; was die Zukunft bringen würde, war unwichtig. Zudem war Deutschland für ihn zwar immer sein Herkunftsland geblieben, jedoch schon lange keine Heimat mehr.

Wenig später zog der Ashram in die Vereinigten Staaten um und Jan kehrte trotz allem nach Hamburg zurück. Dort nutzte er seinen Taxischein, um sich flexibel etwas dazuverdienen zu können. Dann zog er in die ehemalige Schokoladenfabrik in der Karolinenstraße. Dort lebte die Hamburger Kommune, welche nun für die kommenden Jahre sein zu Hause werden würde. Der indische Fahrradhändler wurde erst Elektriker, dann Kellner, Barkeeper, Türsteher – innerhalb der Kommune konnte er seine Tätigkeit frei wählen, für nichts brauchte man eine Ausbildung oder anderweitige Qualifikationen. „Es war immer viel Arbeit, aber es hat Spaß gemacht. Alle waren locker und gut drauf.“ Der Fluss des Lebens trieb ihn irgendwann nach Berlin, weiter nach Amsterdam, immer innerhalb des abgekapselten Systems der Kommune.

In Amsterdam fand die Kommunenzeit ihr Ende – nun galt es, sich wieder in die Gesellschaft einzuklinken. „Das war ein Gefühl, als wenn man nach fünf Jahren Knast rauskommt. Wir haben uns einen Bus genommen, sind an den Strand gefahren, haben ein Lagerfeuer gemacht, uns die Klamotten vom Leib gerissen und sind ins Wasser gesprungen – im Oktober, das Wasser hatte vielleicht acht Grad. Das war total surreal.“ Die Kommune war ein abgeschlossenes System mit ihren eigenen Regeln, die meistens von außen nicht verstanden wurden. Obwohl Jan sich stets als selbstbestimmt empfand, gab es genügend Abhängige, die ohne diese Ordnung nicht leben konnten. „Ich habe das immer aus eigenem Willen gemacht und wusste immer, dass ich auch die Wahl hatte, was anderes zu machen. Vielen ging es da anders, die irgendwann nicht mehr wussten, was sie eigentlich tun sollten ohne dieses System.“ Nach der Auflösung der Kommune in Amsterdam wurde so aus dem zu der Zeit im Rotlichtviertel arbeitenden Türsteher wieder ein Elektriker, der mit nichts als einer Werkzeugtasche zurück nach Hamburg zog, um wieder ins normale Leben zurückzufinden.

Dies gelang in einem kleinen Lampengeschäft, dass er dank seiner Fähigkeiten und Kenntnisse als Stromtechniker nach einiger Zeit eröffnen konnte. Er handelte mit Halogenlampen und entwarf seine eigene Lampenserie. Es war der Beginn eines lukrativeren Lebens, das er auch in der Zukunft weiterführen würde – auch wenn die Elektrik ihn irgendwann losließ und es ihn in den Bereich der Computertechnologien zog.

Rückblickend sagt er: „Jetzt haben wir immer mehr materielle Dinge angehäuft, aber so frei und glücklich habe ich mich nur gefühlt, als ich nichts außer dieser Werkzeugtasche hatte.“ Einen Minimalisten würde ich Jan zwar nicht nennen, doch die vielen Jahre in der Kommune und vor allem das abenteuerliche Leben in Indien haben ihn zu einem bescheidenen Menschen gemacht, der Konsum nicht als essentiell ansieht. „Viele sind vom Konsum getrieben und kennen nichts anderes. Das Leben verläuft aber nicht in einer geraden Linie nach oben – man hat mal mehr, mal weniger und das ist auch normal und gut so“.

In der IT fand Jan einen Geschäftspartner und die Selbstständigkeit, was aus ihm einen erfolgreichen Unternehmer machte, der zusammen mit seinem Partner im Jahr 2005 eine Firma für Computersoftware aufbaute. In diesem Leben verdient er gut, hat ein großes Haus, ein schickes Auto und eine Blockhütte, die seine Frau an Feriengäste vermietet. Doch auch heute noch macht er sich Gedanken darüber, inwiefern er Dinge braucht oder nicht braucht. Er genießt den Luxus, in dem er jetzt lebt, weiß aber auch, dass er mit viel weniger auskommen könnte und ebenso glücklich wäre. „Ich würde auch mit der Gemüsekiste zurechtkommen und damit zur Arbeit fahren, das wäre für mich auch ausreichend.“ Auch, wenn er vielleicht nicht mehr Fahrradhändler in Indien oder umherziehender Elektriker sein möchte, weiß er doch, dass es für ihn keine Bedrohung darstellt, weniger von dem einen oder dem anderen zu haben.

In die Zukunft blickt er deshalb auch gelassen. Wenn in voraussichtlich zweieinhalb Jahren für ihn die Rente beginnt, möchte er wieder reisen und neue Abenteuer finden – wenn auch anders als vor 35 Jahren. „Mein Traum wäre ja, einen Campingbus zu kaufen, Ehefrau und Hund einzupacken und dann ab durch die Mitte. Vielleicht das Haus vermieten und dann über die Mieteinnahmen leben, überwintern im Süden, wo es warm ist.“ Lachend fügt er hinzu: „Mein neuer Berufswunsch ist Rentner im Bully.“ Da ist das Flämmchen der Abenteuerlust noch nicht ganz erloschen.

Auf die Frage, ob er sein Leben noch einmal genauso leben würde, wenn er die Chance dazu hätte, zögert Jan. „Ich weiß, dass ich mein heutiges Leben nicht so leben könnte, wenn ich nicht diese abenteuerliche Vergangenheit hätte.“

Der Abiturient auf der Suche, der indische Fahrradhändler, der umherziehende Elektriker, der Taxifahrer, der pragmatische Unternehmer – sie alle sind nun in einem Haus an der Ostsee zur Ruhe gekommen, wo sie jeden Morgen mit Ehefrau und Hund am Strand spazieren gehen. Sie alle haben ihre Kapitel abgeschlossen. Sie alle haben dazu beigetragen, dass aus Jan Siebert der Mann wurde, der er heute ist. Und wer weiß – vielleicht wird in fünf Jahren aus dem ausgeglichenen Küstenbewohner ein Naturalist, der im VW-Bus durch Thailand zieht?

[1] Der Name der Person wurde auf Wunsch des Interviewten von der Autorin geändert und ist fiktiv.