Eine junge Frau sitzt auf grünem Rasen. Auf ihren verschränkten Beinen hat sie ein offenes Buch und ein Notizheft abgelegt. In das Buch schreibt sie mit einem Kugelschreiber. Die Frau hat braune Haare und trägt ein sommerliches Shirt sowie eine kurze Hose. Wir sehen ihr schräg über die Schulter.

Eine Nacht, ein Leben von Sophie van der Linden

Vom Land und vom Meer, von der Liebe, dem Leben und der Natur: Die französische Autorin Sophie van der Linden skizziert in ihrer Novelle in eindringlicher, intensiver Sprache ein impressionistisches Abbild einer Geschichte, die mit wenig Handlung doch Großes bewirkt.

Das 20. Jahrhundert steht in seinen Anfängen, als der sensible Maler Henri aus Paris die bretonische Insel B. erreicht. Er ist auf der Suche nach Antworten, nach einem klärenden Gespräch mit seiner verflossenen Liebe Youna, mit der er in den vergangenen Jahren nur Briefkontakt pflegte. Die junge Frau, Schriftstellerin und ungewöhnlich freiheitsliebend und selbstständig für diese Zeit, lebt allein auf der Insel und verließ Henri, als dieser bereit war, nach langer militärischer Ausbildung endlich ein Leben mit ihr zu beginnen.

Henri und Youna treffen sich am Strand der Insel, zwei Menschen in ganz unterschiedlichen Stadien ihres Lebens, mit unterschiedlichem Verständnis von Freiheit. Youna kann Henri nicht erklären, was sie dazu veranlasste, sich von ihm abzuwenden, kann ihm ihre Form der Freiheit nicht verständlich machen. Niedergeschlagen, erneut zurückgewiesen wandert Henri vierundzwanzig Stunden über die Insel.

Ihm begegnet nicht nur die malerische Landschaft von B., sondern auch die Insulaner, die ihn nachhaltig verändern. Da ist der Marathon-Läufer, der die Insel wild umkreist, der Restaurantbesitzer, der sein Geschäft voll Herzblut betreibt, der Fischer, der sein Leben täglich riskiert, der vereinsamte Musiker, bei dem Henri für einige Stunden unterkommen kann, der verängstigte deutsche Matrose in der Grube, die Henri mit ihm teilt.

Am Ende der Nacht ist Henri ein anderer Mensch — und nach der Überfahrt zurück auf das Festland begrüßt ihn die Mobilmachung des Ersten Weltkriegs. Ein altes Leben verschwindet, ein neues Leben beginnt.

Ungewöhnlich dicht und atmosphärisch, so erzählt van der Linden vom tragischen Ende einer Liebe, vom Abschied und dem Wandel einer eigenwilligen Seele. Es sind die kleinen Augenblicke, die die Autorin pointiert und bildgewaltig festhält. Die Schönheit der Insel ist mehr als nur die Kulisse der Nachtwanderung Henris’, sondern wird zur Metapher des Laufs des Lebens. Van der Linden versteht es, ihren Leser*innen viel Raum zur Interpretation zu lassen; die Vorgeschichte von Henri und Youna bleibt undurchsichtig, die Binnenerzählungen der Insulaner bleiben in sich geschlossen und beleben den kurzen Ausschnitt aus Henri’s Lebensweg. Leser*innen bleiben gefangen inmitten der Momente. Der sich ankündigende Krieg schließt die Novelle lyrisch ab, wird zum Beginn eines neuen Lebens, in dem die Insel B. nur noch nachhallen wird.

Irgendwie melancholisch, irgendwie lebendig, irgendwie zerbrechlich und gleichzeitig kraftvoll — van der Linden schafft es trotzdem, nie in Kitsch abzudriften. Das ist schöne Literatur.

Die Pariserin van der Linden, Jahrgang 1973, ausgezeichnet mit dem Prix des Libraires und dem Prix du Premier Roman für ihr Erstlingswerk La Fabrique du Monde (2013) beweist, dass aus ihrer Feder immer wieder Schätze der Sprache fließen.

Fazit: 1 von 5 Sternen 2 von 5 Sternen 3 von 5 Sternen 4 von 5 Sternen 5 von 5 Sternen

Diese Novelle ist kein klassisches Porträt einer Liebe, sondern eine Liebeserklärung an das, was wirklich zählt und ewig währt. Mit Charme, nähe und anhaltenden Bildern im Kopf ist Eine Nacht, ein Leben purer, kurzweiliger Lesegenuss für alle, die gute Texte zu schätzen wissen.