Nachdem ihm sein Debütroman „Trauer ist das Ding mit Federn“ drei Literaturpreise einbrachte, musste Max Porter mit seinem nächsten Buch nachlegen. Und das schafft er. In diesem nächsten Buch erzählt Max Porter die Geschichte von Lanny. Lanny ist etwas Besonderes, Lanny ist anders. Er ist das Gute – das Bindeglied zwischen Familie, Freunden und Umwelt. Als Lanny verschwindet, scheint alles aus den Fugen zu geraten.
In Lanny lernen die Leser*innen Lannys Eltern und die Dorfgemeinschaft nahe London kennen, in der sie zusammenwohnen. Lannys Mutter Jolie Lloyd ist ehemalige Schauspielerin. Auf ihren Wunsch hin zog die Familie aufs Dorf. Sie hatte mit Depressionen zu kämpfen, und versucht sich nun als Kriminal-Autorin. Jolies Mutterliebe zu Lanny ist bedingungslos; die Liebe ihres Mannes Robert Lloyd ist da anders, irgendwie befangener. Für Robert ist Lanny ein unerklärliches Phänomen. Seine Verbindung ist nicht so intensiv und hingebungsvoll wie Jolies. Seine Familie, das Dorf, alles scheint ihm fremd zu sein. Er hasst das Pendeln in die Stadt und das Leben auf dem Dorf. Eine Vaterfigur findet Lanny in seinem Kunstlehrer Pete Blythe. Der 80-jährige Künstler gibt Lanny regelmäßig privaten Unterricht. Schnell wird er mehr als ein Lehrer für Lanny – eine Vertrauensperson.
Dann ist da noch der Wald, und hier bekommt die Geschichte etwas Märchenhaftes. Altvater Schuppenwurz ist dieser Wald in Person, eine Gestalt, die es eigentlich nur in Gute-Nacht-Geschichten gibt. Altvater Schuppenwurz taucht in das Leben der Dorfbewohner ein. Er ist der unsichtbare Voyeur, der die Dorfbewohner aushorcht. „Er kracht durch den Wald, hellwach und hungrig danach zu lauschen.“ Das Fabelwesen kritisiert und hinterfragt die Dorfbewohner. Er verspürt eine besondere Verbindung zu Lanny – seiner Lieblingsstimme. Liebevoll nennt er ihn Lanny Greentree.
Lanny ist es Mysterium für sein näheres Umfeld. Andauernd passieren unerklärliche Dinge mit ihm. Als der Junge verschwindet, steht das Dorf Kopf. Verzweiflung macht sich breit. Jolie ist am Boden zerstört, Pete ist der Hauptverdächtige und Robert ist zu nichts zu gebrauchen. Max Porter lässt den Leser die Verzweiflung spüren. Aus verschiedenen Perspektiven wird der Dorftratsch widergegeben. Schnell hintereinander wechseln sich die Erzähler ab. Oft wird nie richtig klar, wer eigentlich redet. Es werden Sorge und Mitleid aber auch Tratsch und Misstrauen thematisiert. Der Dorfklatsch verselbstständigt sich. Dann lädt Altvater Schuppenwurz Pete, Robert und Jolie in einen Traum ein. Dort zeigt er in einer Art Schiedsgericht verschiedene Enden der Geschichte. Das Ende kommt unerwartet, wäre aber doch vor dem Hintergrund von Lannys Gewohnheiten und Verhaltensmustern vorhersehbar gewesen.
Der Roman erinnert an Mariana Lekys Was man von hier aus sehen kann und an Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez. In allen drei Romanen geht es um eine Dorfgemeinschaft, ihre Personen und Besonderheiten. Es passieren absonderliche Geschehnisse, die einem mehr über die Menschen verraten. Wie auch bei Leky und Márquez ist Porters Roman voller Rätsel und Mythen. Lanny ist ein Buch für alle, die gerne zwischen den Zeilen lesen und das Seltsame und Abstruse lieben.