Die Helferin vom Kap der guten Hoffnung

Mit einer Eiswaffel in der Hand schlendert Lea Marie Seiter durch den Stadtteil Südfriedhof. Es ist ein heißer Sommertag in Kiel. Mit den Temperaturen jenseits der 30 Grad Marke kennt Lea sich gut aus: Ein langes Jahr hat sie gerade in Südafrika verbracht. In der Nähe von Johannesburg, in Potchefstroom (kurz: Potch), hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, Kinder und ihre Familien im Township im Alltag zu unterstützen und zu fördern.

Die gebürtige Kielerin, deren Familie es früh nach Bremen zog, hatte schon immer großes Interesse an der Arbeit in der Entwicklungshilfe. Nicht zuletzt aus diesem Grund kehrte sie vergangenes Jahr zurück in ihre Geburtsstadt, wo sie ihr Studium der Politik- und Islamwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel antrat.

"Das Fach Islamwissenschaft hat mich anfangs bloß wahnsinnig interessiert", erzählt die Studentin. "Ablehnung, Angst und Hass gegenüber anderen Kulturen haben mich schon immer traurig gemacht und steigerten meine Motivation und meine Begeisterung für mein Studienfach", sagt sie. "Mittlerweile finde ich es toll, zu häufig überzogenen und von den falschen Leuten geführten Debatten auf wissenschaftlichem Niveau etwas beitragen zu können.“

Nach dem Abitur sollte ein Jahr Auszeit vom deutschen Alltagstrott neue Sichtweisen eröffnen. Südafrika war der 20-Jährigen nicht gänzlich unbekannt: Auf mehreren Reisen in das Land am Kap der guten Hoffnung besuchte sie den Teil ihrer Familie, den es bereits vor langer Zeit auf die Südhalbkugel verschlagen hatte.
Trotzdem war dies nicht der Hauptgrund, aus dem sie sich für ein "Gap Year" in Südafrika entschied.

"Während der Zeit, in der ich meine Familie besuchte, lernte ich nur eine Seite dieses Landes kennen. Mein Bild von Südafrika war geprägt von hohen Mauern, die die hübschen Grundstücke mit ihren großen, türkisen Swimmingpools umgaben", erinnert sich Lea. "Einen Großteil der Umgebung erlebt man vom Inneren des verriegelten Autos, in dem man sich fast ausschließlich fortbewegt. Von den Autobahnen aus fällt der Blick dann auf die Townships. Die andere, größere Seite Südafrikas, in die viel zu wenige Menschen dort unten eintauchen."

Lea wollte diese fremde Seite des ihr eigentlich so vertrauten Landes kennenlernen, die Menschen aus den Townships, mit denen man sonst nur selten in Kontakt tritt:

In Potch lebt sie mit drei weiteren Helfern aus Deutschland in einer WG. Täglich machen sie sich auf den Weg in das Township, das den Namen Ikageng trägt, und in dem sie das After School Program für Kinder planen und vorbereiten. In kleinen Gruppen wird hier gelernt und gespielt. Den vormittäglichen Büroalltag bei der gemeinnützigen Organisation Mosaic empfindet Lea stets als anstrengender und kräftezehrender als die Zeit, die sie nachmittags mit den Kleinen verbringt.

Neben Spaß und Spiel holt die Jugendlichen jedoch häufig der grausame Alltag der Kinder ein. Nicht selten werden sie mit einer bitteren Machtlosigkeit konfrontiert, wenn die Spuren häuslicher Gewalt und sexuellen Missbrauchs deutlich werden.
Auch der Rassismus und die Unterschiede in der Weltanschauung bleiben Lea im Gedächtnis: In Potch und dem Township Ikageng sind die Überbleibsel der Apartheid noch immer spürbar. Während der Großteil der Bevölkerung in Potch weiß ist, leben in Ikageng wiederum nur zwei Weiße: Die amerikanischen Gründer der Mosaic-Partnerschule Naledi.
Der Alltag und die Lehrbücher sind geprägt von der Ehrfurcht vor Gott und dem Glauben an seinen Plan für jeden einzelnen Menschen. Für die Atheistin Lea, die in einem von Wissenschaft geprägten Umfeld aufwuchs, ist diese einseitige Vermittlung von Wissen schwer nachvollziehbar. Schnell lernt sie jedoch, sich anzupassen, nimmt an Gottesdiensten teil und versucht, diese ihr fremde Sicht der Dinge zu begreifen. Denn die Fortschritte, die die Kinder machen, sind die größte Motivation und machen die junge Frau heute noch glücklich.

Um ihre Studienpläne zu konkretisieren, hat Lea Seiter das Jahr nach dem Abitur jedoch nicht gebraucht. Sie wusste schon früh, wo es hingehen sollte. Noch aus Südafrika verschickte sie fleißig Bewerbungen an die Universitäten.
Dass es sie am Ende allerdings zurück in ihre Geburtsstadt Kiel verschlagen würde, damit hat sie nicht gerechnet.

"Bevor ich nach Südafrika ging, faszinierte mich die Vorstellung, möglichst weit weg zu gehen und etwas komplett anderes zu wagen. Deshalb hatte ich mir in den Kopf gesetzt, Politikwissenschaft in Bonn zu studieren." Am anderen Ende der Welt merkte Lea dann, dass es ihr wichtig war, weiter auszuholen und ein zweites Fach zu studieren.
"Ich kann mir zwar vorstellen, so ziemlich überall auf der Welt zu leben, innerhalb Deutschlands liegt meine Schmerzgrenze allerdings ungefähr bei Hannover. Am Ende machten das Meer, die Menschen und mein Interesse an der islamischen Welt mir die Entscheidung für den hohen Norden nicht allzu schwer.“

In Kiel ist Lea nun seit fast einem Jahr zuhause. Und auch hier geht sie ihrer humanitären Passion nach. Schnell fand sie zurück in die Flüchtlingshilfe, in der sie sich schon während der Schulzeit in Bremen engagiert hatte.
Im Sprachtreff der offenen Begegnungsstätte im Kieler Waisenhof hilft die Studentin, wann immer sie die Zeit findet, bei Hausaufgaben und dem Erlernen der deutschen Sprache. Dankbarkeit erfährt sie hierfür nicht zuletzt in Form von regelmäßigen Einladungen zum Essen im Zuhause einer jungen Syrerin, mit der sie besonders viel Zeit verbringt.

Bereits 2015 begann Lea mit der ehrenamtlichen Arbeit in einem Bremer Übergangswohnheim, wo sie anfangs lediglich in der Kleiderkammer aushalf, jedoch schnell Kontakt mit den jugendlichen Geflüchteten knüpfte, die sich über die Helferin in ihrem Alter freuten. "Es entwickelte sich eine Art Hilfe-für-Alles-Grupe: Wir trafen uns nachmittags, lernten Deutsch, Mathe und Englisch zusammen, gingen am Wochenende aber auch mal ein Eis essen oder Falafel. Die Gruppe war toll, denn es blieb nicht nur bei einseitiger Hilfe."
Lea konnte so viele Fragen stellen, wie sie wollte, bekam Geschichten über Flucht, Familie, Freunde und Heimat erzählt und durfte sogar beim Gebet dabei sein. "Ich empfinde so etwas als Privileg, denn ich beobachte in meinem Umfeld häufig, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, zu geben und auch etwas zurückzubekommen. Für solche Erfahrungen bin ich sehr dankbar, denn sie lassen mich über den Tellerrand blicken und zeigen all die Gemeinsamkeiten auf, die wir häufig ob der vermeintlich erdrückenden Unterschiede gar nicht erkennen wollen.“

Trotz ihrer beeindruckenden Arbeit spricht die junge Frau eher bescheiden von sich. Im Mittelpunkt hat sie sich noch nie richtig wohlgefühlt.
Doch das Jahr auswärts, über 10.000 Kilometer entfernt von Familie und Freunden, ließ sie wachsen und über ihren Schatten springen. Nicht selten gab es Konflikte zwischen den Mitarbeitern vor Ort und den zugereisten jungen Erwachsenen. Kulturelle Differenzen und hierarchische Strukturen erschwerten häufig den Arbeitsalltag und erforderten viel Geduld und Diplomatie auf beiden Seiten. Den Grund ihres Aufenthalts verloren Lea und ihre Kolleginnen und Kollegen dabei jedoch nie aus den Augen: Für die Kinder und ihre Familien da zu sein, sie im Alltag zu unterstützen. Die Jüngsten einfach einmal Kind sein lassen.

Lea mit einem Kleinkind auf dem Arm

"In Potch machten wir Bildung zu unserem Werkzeug", erklärt Lea. "Lasen mit den Kindern auf Englisch, machten Spiele und veranstalteten Theater- oder Vortragswettbewerbe. Wir besuchten Kinderheime in der Umgebung, wo unsere Kinder das Programm gestalteten und mit den anderen spielten, sangen, tanzten und aßen. Während der gemeinsamen Zeit hatte ich unendliche Energiereserven, die unerschöpflich schienen. Wenn man dann abends mit mehr Lachfältchen einschläft, als am Abend zuvor, dann hat man alles richtig gemacht und ich danke diesen wunderbaren Menschen, die es einmal zu Großem bringen werden, jeden einzelnen Tag für unsere tolle und unersetzliche Zeit zusammen.“

Dennoch freut sich die Studentin nach einem aufregenden und auch anstrengenden Jahr in Potch, in Kiel angekommen zu sein. In ihrer neuen, alten Heimat, in der es ebenfalls viel zu bewegen gibt, und in der sie sich, zumindest für einen gewissen Zeitraum, ganz und gar zuhause fühlt.