„Boom, Junge."


„In your face, bitch“, brüllt Jesko mich an und ballt die Faust. Wir spielen FIFA 18 und er schießt gerade das 1:0.

An diesem heißen Augusttag ist das Wetter eigentlich viel zu schön, um in meinem Zimmer Xbox zu zocken. Aber wenn Jesko bei mir ist, dann spielen wir FIFA. Das ist unsere Tradition, immer schon, und Traditionen werden nicht gebrochen. Jesko steht mit dem Controller in der Hand vor mir. Bei seinem Jubelschrei ist er aufgesprungen.

Jesko Wuttke ist ein rustikaler Typ. Er ist groß und breit, trägt eine schwarze Cap und einen kantigen Bart. Jesko und ich kennen uns seit der Schulzeit. Schon damals war er in der Klasse und vor allem bei den Lehrern für seine kecke Art und die markigen Sprüche bekannt. „Gibt`s das auch in interessant?“, fragte er mich einmal etwas zu laut. Die Klasse lachte und so sehr sich unser Lehrer auch bemühte: Ein Schmunzeln konnte er sich nicht verkneifen. Nach dem Abitur hat Jesko ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Stiftung Drachensee in Kiel gemacht. Dort hat er mit Menschen mit Behinderung zusammengearbeitet. „Mir war danach sofort klar, dass ich im sozialen Bereich bleiben möchte. 2016 habe ich mich dann zur Ausbildung als Erzieher am RBZ in Kiel beworben. Und es hat geklappt“, erzählt Jesko.

Nach einem Konter schieße ich das 1:1. „Meine Fresse nochmal. Sind die alle bescheuert da hinten oder was?“

Ich frage Jesko, ob er auch so mit seinen Klienten redet. „Da ist es etwas anders“, antwortet er. „Ich muss die Menschen schon richtig einschätzen. Es ist wichtig, dass sie kognitiv in der Lage sind, das richtig zu verstehen. Am wichtigsten ist es, Menschen mit Behinderung nicht abzuwerten und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.“

Momentan macht Jesko ein Praktikum beim Maria-Christian-Heime e.V. in Kiel. Dort arbeitet er neben Menschen mit Behinderung auch mit psychisch Erkrankten zusammen. Er hilft den Menschen dabei, sich weiterzubilden und zu erholen. „Dafür ist die richtige Tagesstruktur entscheidend. Neulich sind wir zum Beispiel spazieren gegangen. Danach saßen wir auf der Terrasse und haben auf den See geschaut. Das war ein schöner Moment.“ Nebenbei arbeitet er noch für das Jugendbüro Mettenhof. Dort betreut er als Fußballcoach geflüchtete Jugendliche, hauptsächlich Syrer. Manchmal machen sie auch Ausflüge zusammen, beispielsweise zum Fußballgolf nach Nortorf. „Es ist wichtig, ein offenes Ohr zu haben. Für viele Menschen bin ich nicht nur Erzieher, sondern auch Bezugsperson und Ansprechpartner. Dabei bin ich locker und ehrlich. Ich versuche einfach, authentisch zu sein.“

Zur Halbzeit steht es 1:1. Wir gehen auf den Balkon und Jesko dreht sich eine Zigarette. Die Abendluft ist schwül, aber angenehm. Nach ein paar schnellen Zügen drückt Jesko die Zigarette aus: „Jetzt ziehe ich dich ab.“

Im Sommer hat Jesko bei den Special Olympics Deutschland mitgeholfen, die im jährlichen Wechsel nationale Sommer- und Winterspiele für Menschen mit geistiger Behinderung veranstalten. Zusammen mit seinem Team betreute er das Street-Art-Projekt im Olympischen Dorf in Kiel. Auf Leinentüchern konnten sich die Teilnehmer verewigen. Am Ende wurden die Tücher zusammengenäht und aufgehängt. „Das Ziel war es, alle gesellschaftlichen Schichten für den Sport von Menschen mit geistiger Behinderung zu begeistern“, sagt Jesko. „Wir wollten mit den Leuten ins Gespräch kommen und Neugier wecken. Es ist wichtig, dass die Special-Olympics noch mehr Anerkennung bekommen.“

76. Minute. Jesko schießt das 2:1. „Boom, Junge“. Diesmal bleibt er sitzen.

Jesko ist ein Familienmensch. Er hat einen Bruder, drei Onkel und sechs Cousins. Sie treffen sich regelmäßig. Alle sind leidenschaftliche Anhänger von Holstein Kiel, Schleswig-Holsteins einzigem Fußballverein in der 2. Fußball-Bundesliga. In der Jugend hat Jesko selber für Holstein Kiel gespielt. Wenn wir die Zeit finden, gehen wir zusammen ins Stadion. Ich frage Jesko, ob er seine Familie und den Sport als Ausgleich zu seiner Arbeit sieht. „Ganz ehrlich, ich brauche keinen Ausgleich. Auf der Arbeit habe ich genauso viel Spaß und Freude wie mit meiner Familie oder bei Holstein Kiel. Ich kann locker und fröhlich sein. Ich bin dort einfach so, wie ich bin.“

Der Schiedsrichter pfeift das Spiel ab. Jesko gewinnt 2:1. Wir gehen nochmal auf den Balkon und Jesko dreht sich nochmal eine Zigarette. Das Spiel war schließlich turbulent. Der Himmel ist mittlerweile dunkel und die Luft ist kühl. „Ich habe doch gesagt, dass du verlierst. Du kannst halt nicht zocken“, sagt Jesko zu mir. Er zieht an seiner Zigarette. Dann klopft er mir auf die Schulter und lächelt mich an: „Aber du hast dich gut geschlagen“.

Fussball im Grass