Eine junge Frau sitzt auf grünem Rasen. Auf ihren verschränkten Beinen hat sie ein offenes Buch und ein Notizheft abgelegt. In das Buch schreibt sie mit einem Kugelschreiber. Die Frau hat braune Haare und trägt ein sommerliches Shirt sowie eine kurze Hose. Wir sehen ihr schräg über die Schulter.

Nordwasser von Ian McGuire

Im Eismeer der Grausamkeit

Nichts kann sie mehr entsetzen, die Mannschaft des Walfängers Volunteer, der auf einer letzten Fahrt im Polarmeer 1859 an Gewinn abwerfen soll, was es im absteigenden Handel mit dem unsauberen Walöl noch zu holen gibt. Ehe Petroleum und Paraffin das Geschäft zerstören, lassen Schiffsinhaber Baxter und Kapitän Brownlee einen feigen Versicherungsbetrug aufs offene Meer fahren. Aus dem englischen Hafenort Hull segelt die Volunteer zur Baffinbucht ins ewige Eis des Nordwassers. An Bord keine Seefahrerromantik: Zwischen heruntergekommenen Kleinkriminellen, jeder Menge Blut, Schlachtungen von Robben und Haien, erbarmungsloser Jagd auf Eisbären, dem Gestank menschlicher Ausscheidungen und tierischen Innereien haben Helden keinen Platz.

Patrick Sumner, Arzt, opiumsüchtig und unehrenhaft aus dem Militär während des Sepoy-Aufstands in Indien entlassen, heuert auf dem Walfänger an, um unterzutauchen. Der verbitterte Mann schwelgt in Illusionen über das Leben an Bord des Schiffes, liest in Homer’s Ilias, um bei Verstand zu bleiben. Der Überlebenskampf in der Eiswüste, die permanent Spannungen an Bord, der Dreck, die Gewalt, die Machtkämpfe einfacher, egozentrischer Männer treffen ihn hart.

Auf dem engen Raum unter Deck ist Henry Drax, ein gewissenloser Harpunierer, sein Gegenspieler. Drax ist gesteuert von seinen Impulsen, befriedigt jedes seiner Bedürfnisse sofort und kennt keine Skrupel. Schon auf den ersten Seiten begeht er zwei brutale Morde, ohne Reue zu zeigen.

Die Verordnung und Zügellosigkeit, die in Henry Drax ihren Höhepunkt findet, ist bezeichnend für alle Männer der Mannschaft, für alle Personen des Romans — sie sind triebgesteuert, stinkend, betrunken. Bezüge zu den klassischen Walfang Werken des 19. Jahrhunderts nach Hermann Melville oder Jack London sind Märchenstunden gegen diese Mischung aus Kriminalgeschichte, Abenteuerroman und Psychologiestudie, die der britische Autor Ian McGuire zusammenführt.

Könnte man zu Beginn noch davon ausgehen, einen kontinuierlichen Antagonismus zwischen Gut und Böse herauszulesen, wird doch schnell klar, dass es keinen Unterschied macht. Alles und alle sind grausam, hässlich, böse, wollen sowohl Mensch als auch Tier dominieren.

Henry Drax mag für das Symbol westlicher Grausamkeit stehen, während Patrick Sumner als letzte Instanz des Guten angesehen werden könnte, doch im Nordwasser kann sich niemand seiner Sache gewiss sein.

Nordwasser handelt von den Abgründen der Menschen und der Zivilisation, hochpsychologisch und moralisch eingefärbt, und trotz des historischen Settings stark heutzeitlich.

Ian McGuire schreibt erbarmungslos und ohne Schnörkel. Der Schmutz wird beinahe körperlich erfahrbar, an vielen Stellen möchte man nach Luft schnappen und sich angeekelt abwenden, doch McGuire schafft es, die dreckige Handlung voranzutreiben. Die Sprache der Männer ist obszön und derb, die Sprache der Handlung so klar und schockierend, dass man Parallelen zu Gemälden des Hyperrealismus ziehen könnte.

Das ist kein schönes Lesen, aber dennoch ein wichtiges: Der Leser hält inne und beginnt zu denken.

Mit seinem Roman, der 2016 für den Booker Prize nominiert und gekonnt von Joachim Körber ins Deutsche übersetzt wurde, hat sich Ian McGuire an den überraschenden Erfolg des Kinofilms The Revenant eingereiht: Mensch gegen Natur — und Mensch gegen Mensch.

Fazit: 1 von 5 Sternen 2 von 5 Sternen 3 von 5 Sternen 4 von 5 Sternen 1

Nordwasser von Ian McGuire ist ein wichtiger, zeitgeistlicher Roman, der an niemandem vorbeigehen sollte, der sich ernsthaft Gedanken darüber macht, wie tief der Mensch in seinen Trieben sinken kann.